Text Sophie Emilie Beha
Neulich habe ich auf Instagram gesehen, dass du gerade am IRCAM bist, dem Forschungsinstitut für elektronische Musik in Paris. Was machst du dort?
Aida Shirazi: Ich entwickle dort ein Stück, bei dem ich mit zwei Dichterinnen und Schriftstellerinnen zusammenarbeite. Eine von ihnen ist eine sehr enge Freundin von mir: Haleh Ghassemi. Sie ist Dichterin und Übersetzerin und hat für das Projekt ein Gedicht auf Persisch geschrieben. Und dann habe ich noch eine französische Dichterin kennen gelernt, die ebenfalls übersetzt, sie heißt Irène Gayraud. Ich habe Irène gefragt, ob sie Lust hat, eine französische Adaption oder Übersetzung des persischen Textes zu machen, und sie hat ja gesagt. Deswegen arbeite ich jetzt mit einem zweisprachigen Text, auf Persisch und auch auf Französisch.
Die Beschäftigung mit Sprache, insbesondere in Gedichten, ist ein elementarer Bestandteil deiner Arbeit. Was fasziniert dich so sehr daran?
Das erste Mal, dass ich mir diese Frage wirklich gestellt habe, war vor einigen Jahren, als ich angefangen habe, Musik zu schreiben und darüber nachgedacht habe, Komponistin zu werden. Ich habe bemerkt, dass verschiedene Arten von Text, sei es Poesie oder Prosa oder einfach nur Sprache im Allgemeinen, meine Vorstellungskraft anregen. Sie inspiriert mich auf ganz unterschiedliche Weise. Ich glaube, der Hauptgrund war, dass ich mit viel Poesie aufgewachsen bin. Ich komme, wie du weißt, ursprünglich aus dem Iran. Ich spreche Persisch, das ist meine Muttersprache. Und wir haben ein wirklich großes Erbe an persischer Poesie und Prosa. Als ich aufgewachsen bin, war das genauso Teil unseres Zuhauses wie die Musik. Und das hat wirklich nichts mit dem Bildungsniveau zu tun. Iraner*innen können hochgebildet sein oder nicht, sie können nur einen Schulabschluss haben oder vielleicht sogar Analphabet*innen sein. Aber jede*r kennt zumindest ein paar Zeilen Poesie. Vor allem die klassische Poesie wie Hafis, Saadi, Firdausī und Rumi. Auch viele Ausdrücke, die wir im täglichen Leben verwenden, haben einen starken poetischen Aspekt. Auch in meiner Familie: Mein Großvater war sehr an klassischer persischer Poesie interessiert, genau wie mein Vater und meine Großmutter. Wir hatten eine Menge Bücher zu Hause. Mein Bruder und ich hatten die Möglichkeit, in den Büchern zu stöbern. Mein Vater und manchmal auch mein Großvater haben sich mit uns hingesetzt und uns einfach Gedichte vorgelesen.
Du hast auch schon früh angefangen, Santur zu spielen, richtig?
Ja, aber nicht zuerst. Mit acht Jahren habe ich Klavier gelernt und westliche klassische Musik gespielt. Aber schon sehr früh, zwei oder drei Jahre später, habe ich dann auch klassische iranische Musik kennengelernt. Ich begann, Santur zu spielen und das Repertoire der klassischen iranischen Musik, das Radif genannt wird, zu lernen. Es gibt diese kurzen Stücke, die in freiem Metrum sind und den Gesang begleiten. Die Texte für diese Liedteile sind wiederum ein paar Zeilen aus der klassischen persischen Dichtung.
Es ist spannend, dass diese Stücke ein unbestimmtes Metrum haben. Für mich macht es einen großen Unterschied, in welchem Rhythmus man Gedichte vorträgt. Manchmal, wenn ich Leuten zuhöre, wie sie Gedichte rezitieren, verändert das für mich den Fokus des Gedichts, seine Atmosphäre und seine Betonung total.
Ja, absolut. Es geht um diese wirklich subjektive und persönliche Sicht auf das Gedicht. Das kann an der Sprache liegen, das kann an der Bildhaftigkeit liegen. Worte rufen verschiedene Dinge in uns hervor – Farben, Gefühle, Texturen… Aber die Kombination aus dem, was sie bedeuten, was sie hervorrufen und wie sie klingen, das fasziniert mich wirklich. Ich versuche auf sehr direkte Weise, jede Art von Klangfarbe oder Textur, alles zu finden, was eine Art musikalisches Äquivalent dazu sein könnte.
Auch in deinem neuen Stück of distempered corpses and distilled winds, das dieses Jahr im Rahmen von Outernational beim Chios Music Festival und im radialsystem uraufgeführt wird, beschäftigst du dich mit Poesie, genauer gesagt mit Walt Whitmans This Compost. Kannst du ein Beispiel nennen, wie du Sprache direkt in Klangfarbe oder Textur übersetzt?
In der Einleitung heißt es: »Something startles me where I thought I was safest«. Ich beginne mit leisen Luftklängen im Ensemble und im Klavier, das leicht präpariert ist, und zwar ist die obere Oktave gedämpft. In den Streichern gibt es diese Luftklänge und Tremolos von Luftklängen. Und wenn es um das Wort startle (erschrecken/aufschrecken) geht: Für mich bedeutet »aufschrecken«, dass es eine Art Stillstand gibt oder dass man plötzlich für eine Sekunde innehält und dann auf etwas reagiert. Das Gefühl, aufgeschreckt zu sein, übersetzt sich für mich musikalisch, indem ich den Buchstaben »r« nehme und ihn rolle - »rrrrrr«. Ich lasse das Ensemble tatsächlich sprechen und flüstern, so dass die Musiker*innen manchmal das Gedicht rezitieren.
Walt Whitmann hat das Gedicht 1856 geschrieben, fünf Jahre vor dem Civil War, als er selbst regelrecht aufgeschreckt wurde. Als Wissenschaftsfan hatte er gerade ein neues Buch von Justus Liebig über organische Chemie gelesen. Er schrieb sein Poem of Wonder at The Resurrection of the Wheat (später This Compost), das auf den gelesenen Fakten basiert. Es handelt von der Erkenntnis, dass ständige Veränderung, Wachstum, Entstehung und Verfall elementar für unsere Welt und die Natur sind. Was hat dich an dem Gedicht fasziniert?
In dem Projekt »EXT INC / REMEMBER ME« gibt es auf kuratorischer Ebene diese Idee des Zerfalls, des Verblassens, des Aussterbens. Ich habe viel gelesen und nach einem passenden Text gesucht, mit dem ich arbeiten konnte. Dann bin ich auf dieses Gedicht von Walt Whitman gestoßen! Es handelt von diesen Themen, und es handelt auch vom Tod, und ich habe generell eine seltsame Beziehung zum Tod.
Wie meinst du das?
Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod oder Wiedergeburt, sondern ich denke, dass mit dem Tod alles Lebendige verschwindet. Ich finde es faszinierend, wie sich die Perspektive völlig ändert, wenn man den Tod erlebt. Es wird ein Wendepunkt in deinem Leben und du fängst an, das Leben auf eine ganz andere Weise zu betrachten. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Menschen diese Erfahrung mehr als einmal im Leben machen. Wir verlieren im Laufe der Jahre Menschen aus unterschiedlichen Gründen. Die Verschiebung der Perspektive, die Art und Weise, wie wir sogar den Tod selbst jedes Mal neu bewerten, wenn er eintritt; jedes Mal, wenn wir ihm irgendwie ausgesetzt sind - das finde ich interessant.
Ich komme aus einem Teil der Welt, der seit sehr langer Zeit sehr instabil ist. Teile des Landes sind zu Ruinen geworden. Millionen von Menschen sind dadurch vertrieben worden. Diese Krisen bringen auf so viele verschiedene Arten den Tod mit sich. Sorry, jetzt wird es etwas dunkel. Wenn die Regierung deines Landes eine totalitäre Regierung, eine Diktatur ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie die Menschen einfach auslöscht, sie zum Schweigen bringt und sie tötet. Sei es durch Hinrichtung oder einfach nur, wenn es einen Protest gibt, eröffnet sie das Feuer und tötet Menschen. Vorhin habe ich über einen angenehmen Aspekt der iranischen Kultur gesprochen, über die Poesie und die Tatsache, dass sie im Leben von Millionen von Menschen präsent ist. Ich denke, dass der Tod wahrscheinlich ebenso präsent ist. Ich wurde während des iranisch-irakischen Krieges geboren. Das war zwar gegen Ende des Krieges und ich habe keine Erinnerung daran. Aber ja, er ist da. Und ich habe das Gefühl, dass leider immer mehr Menschen auf der ganzen Welt diese Art von Instabilität und eine größere oder unmittelbarere Nähe zum Tod erleben müssen.
Du hast auch einen poetischen Aspekt des Todes erwähnt. Was meinst du damit?
Die Vergänglichkeit kann auch etwas Schönes in sich haben. Ich kann das auch mit einem Dichter in Verbindung bringen, nämlich Omar Chayyām. Er war nicht nur Dichter, sondern auch Wissenschaftler, Mathematiker, Philosoph – ein sehr interessanter Mensch. Und zu seiner Zeit waren viele seiner Zeitgenossen entweder sehr religiös, waren Sufis oder hatten auf verschiedene Weise eine starke Verbindung zum Mystizismus. Er war genau das Gegenteil: ein hedonistischer Philosoph, der nur darüber spricht, das Leben zu genießen und auszukosten, wie es ist. Es gibt eine ganze Reihe von Ruba'is, das sind Gedichte, die aus vier Zeilen bestehen. Und in vielen von ihnen geht es entweder um Wein und Rausch oder um Lebensgenuss oder um die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungerechtigkeit der Welt.
Da es mehrere Stücke von dir gibt, die direkt von persischer Literatur beeinflusst sind – gibt es auch einige, die direkt von persischer/iranischer Musik beeinflusst sind, wenn du es überhaupt so genau sagen kannst?
Ich habe Stücke, die direkt von persischer oder iranischer Musik beeinflusst sind. Aber eigentlich ist mir das egal. In den ersten Jahren, in denen ich anfing, Musik zu schreiben, war das etwas, das mich besonders interessiert hat. Aber irgendwann habe ich angefangen, diese Position zu überdenken. Ich habe mich gefragt, wo ich damit stehe, wenn es darum geht, wie meine Musik rezipiert wird. Ist das etwas Begrenzendes? Wird es mich oder meine Musik exotisieren? Werde ich dadurch in eine Schublade gesteckt, die ich nicht unbedingt will? Ich hatte viele Gespräche mit meinen nicht-westlichen Lehrer*innen, Kolleg*innen und Freund*innen über dieses Thema.
Wie wirken sich diese Gespräche und deine Erfahrungen auf deine Arbeit aus?
In dieser Phase befinde ich mich gerade noch. Sie fängt damit an, dass man mehr Leute kennenlernt, die die eigene Musik spielen und sich aufrichtig dafür interessieren. Es sind Musiker*innen, die vielleicht etwas finden, das iranisch ist oder iranisch klingt. Auch wenn ich mich vielleicht nicht bewusst dafür entschieden habe, ein Element aus der iranischen Musik zu verwenden, kann für mich diese Rückmeldung von Musiker*innen interessant sein, denn bei meiner Arbeitsweise achte ich nicht unbedingt darauf. Ich arbeite mit meinen Bewegungen, meiner Intuition, meiner Erinnerung – und mit Material, zu dem ich einen unmittelbaren, sehr intuitiven Bezug habe. Es ist also eigentlich ganz natürlich und auch normal, dass man iranische Elemente hören kann. Aber wenn es dann das Einzige ist, was wahrgenommen wird, dann stört mich das wirklich. Doch natürlich kann die Leute nicht wirklich davon abhalten zu denken, was sie denken oder zu fühlen, was sie fühlen. Und damit kann ich jetzt gut leben. ¶
Text Sophie Emilie Beha
Neulich habe ich auf Instagram gesehen, dass du gerade am IRCAM bist, dem Forschungsinstitut für elektronische Musik in Paris. Was machst du dort?
Aida Shirazi: Ich entwickle dort ein Stück, bei dem ich mit zwei Dichterinnen und Schriftstellerinnen zusammenarbeite. Eine von ihnen ist eine sehr enge Freundin von mir: Haleh Ghassemi. Sie ist Dichterin und Übersetzerin und hat für das Projekt ein Gedicht auf Persisch geschrieben. Und dann habe ich noch eine französische Dichterin kennen gelernt, die ebenfalls übersetzt, sie heißt Irène Gayraud. Ich habe Irène gefragt, ob sie Lust hat, eine französische Adaption oder Übersetzung des persischen Textes zu machen, und sie hat ja gesagt. Deswegen arbeite ich jetzt mit einem zweisprachigen Text, auf Persisch und auch auf Französisch.
Die Beschäftigung mit Sprache, insbesondere in Gedichten, ist ein elementarer Bestandteil deiner Arbeit. Was fasziniert dich so sehr daran?
Das erste Mal, dass ich mir diese Frage wirklich gestellt habe, war vor einigen Jahren, als ich angefangen habe, Musik zu schreiben und darüber nachgedacht habe, Komponistin zu werden. Ich habe bemerkt, dass verschiedene Arten von Text, sei es Poesie oder Prosa oder einfach nur Sprache im Allgemeinen, meine Vorstellungskraft anregen. Sie inspiriert mich auf ganz unterschiedliche Weise. Ich glaube, der Hauptgrund war, dass ich mit viel Poesie aufgewachsen bin. Ich komme, wie du weißt, ursprünglich aus dem Iran. Ich spreche Persisch, das ist meine Muttersprache. Und wir haben ein wirklich großes Erbe an persischer Poesie und Prosa. Als ich aufgewachsen bin, war das genauso Teil unseres Zuhauses wie die Musik. Und das hat wirklich nichts mit dem Bildungsniveau zu tun. Iraner*innen können hochgebildet sein oder nicht, sie können nur einen Schulabschluss haben oder vielleicht sogar Analphabet*innen sein. Aber jede*r kennt zumindest ein paar Zeilen Poesie. Vor allem die klassische Poesie wie Hafis, Saadi, Firdausī und Rumi. Auch viele Ausdrücke, die wir im täglichen Leben verwenden, haben einen starken poetischen Aspekt. Auch in meiner Familie: Mein Großvater war sehr an klassischer persischer Poesie interessiert, genau wie mein Vater und meine Großmutter. Wir hatten eine Menge Bücher zu Hause. Mein Bruder und ich hatten die Möglichkeit, in den Büchern zu stöbern. Mein Vater und manchmal auch mein Großvater haben sich mit uns hingesetzt und uns einfach Gedichte vorgelesen.
Du hast auch schon früh angefangen, Santur zu spielen, richtig?
Ja, aber nicht zuerst. Mit acht Jahren habe ich Klavier gelernt und westliche klassische Musik gespielt. Aber schon sehr früh, zwei oder drei Jahre später, habe ich dann auch klassische iranische Musik kennengelernt. Ich begann, Santur zu spielen und das Repertoire der klassischen iranischen Musik, das Radif genannt wird, zu lernen. Es gibt diese kurzen Stücke, die in freiem Metrum sind und den Gesang begleiten. Die Texte für diese Liedteile sind wiederum ein paar Zeilen aus der klassischen persischen Dichtung.
Es ist spannend, dass diese Stücke ein unbestimmtes Metrum haben. Für mich macht es einen großen Unterschied, in welchem Rhythmus man Gedichte vorträgt. Manchmal, wenn ich Leuten zuhöre, wie sie Gedichte rezitieren, verändert das für mich den Fokus des Gedichts, seine Atmosphäre und seine Betonung total.
Ja, absolut. Es geht um diese wirklich subjektive und persönliche Sicht auf das Gedicht. Das kann an der Sprache liegen, das kann an der Bildhaftigkeit liegen. Worte rufen verschiedene Dinge in uns hervor – Farben, Gefühle, Texturen… Aber die Kombination aus dem, was sie bedeuten, was sie hervorrufen und wie sie klingen, das fasziniert mich wirklich. Ich versuche auf sehr direkte Weise, jede Art von Klangfarbe oder Textur, alles zu finden, was eine Art musikalisches Äquivalent dazu sein könnte.
Auch in deinem neuen Stück of distempered corpses and distilled winds, das dieses Jahr im Rahmen von Outernational beim Chios Music Festival und im radialsystem uraufgeführt wird, beschäftigst du dich mit Poesie, genauer gesagt mit Walt Whitmans This Compost. Kannst du ein Beispiel nennen, wie du Sprache direkt in Klangfarbe oder Textur übersetzt?
In der Einleitung heißt es: »Something startles me where I thought I was safest«. Ich beginne mit leisen Luftklängen im Ensemble und im Klavier, das leicht präpariert ist, und zwar ist die obere Oktave gedämpft. In den Streichern gibt es diese Luftklänge und Tremolos von Luftklängen. Und wenn es um das Wort startle (erschrecken/aufschrecken) geht: Für mich bedeutet »aufschrecken«, dass es eine Art Stillstand gibt oder dass man plötzlich für eine Sekunde innehält und dann auf etwas reagiert. Das Gefühl, aufgeschreckt zu sein, übersetzt sich für mich musikalisch, indem ich den Buchstaben »r« nehme und ihn rolle - »rrrrrr«. Ich lasse das Ensemble tatsächlich sprechen und flüstern, so dass die Musiker*innen manchmal das Gedicht rezitieren.
Walt Whitmann hat das Gedicht 1856 geschrieben, fünf Jahre vor dem Civil War, als er selbst regelrecht aufgeschreckt wurde. Als Wissenschaftsfan hatte er gerade ein neues Buch von Justus Liebig über organische Chemie gelesen. Er schrieb sein Poem of Wonder at The Resurrection of the Wheat (später This Compost), das auf den gelesenen Fakten basiert. Es handelt von der Erkenntnis, dass ständige Veränderung, Wachstum, Entstehung und Verfall elementar für unsere Welt und die Natur sind. Was hat dich an dem Gedicht fasziniert?
In dem Projekt »EXT INC / REMEMBER ME« gibt es auf kuratorischer Ebene diese Idee des Zerfalls, des Verblassens, des Aussterbens. Ich habe viel gelesen und nach einem passenden Text gesucht, mit dem ich arbeiten konnte. Dann bin ich auf dieses Gedicht von Walt Whitman gestoßen! Es handelt von diesen Themen, und es handelt auch vom Tod, und ich habe generell eine seltsame Beziehung zum Tod.
Wie meinst du das?
Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod oder Wiedergeburt, sondern ich denke, dass mit dem Tod alles Lebendige verschwindet. Ich finde es faszinierend, wie sich die Perspektive völlig ändert, wenn man den Tod erlebt. Es wird ein Wendepunkt in deinem Leben und du fängst an, das Leben auf eine ganz andere Weise zu betrachten. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Menschen diese Erfahrung mehr als einmal im Leben machen. Wir verlieren im Laufe der Jahre Menschen aus unterschiedlichen Gründen. Die Verschiebung der Perspektive, die Art und Weise, wie wir sogar den Tod selbst jedes Mal neu bewerten, wenn er eintritt; jedes Mal, wenn wir ihm irgendwie ausgesetzt sind - das finde ich interessant.
Ich komme aus einem Teil der Welt, der seit sehr langer Zeit sehr instabil ist. Teile des Landes sind zu Ruinen geworden. Millionen von Menschen sind dadurch vertrieben worden. Diese Krisen bringen auf so viele verschiedene Arten den Tod mit sich. Sorry, jetzt wird es etwas dunkel. Wenn die Regierung deines Landes eine totalitäre Regierung, eine Diktatur ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie die Menschen einfach auslöscht, sie zum Schweigen bringt und sie tötet. Sei es durch Hinrichtung oder einfach nur, wenn es einen Protest gibt, eröffnet sie das Feuer und tötet Menschen. Vorhin habe ich über einen angenehmen Aspekt der iranischen Kultur gesprochen, über die Poesie und die Tatsache, dass sie im Leben von Millionen von Menschen präsent ist. Ich denke, dass der Tod wahrscheinlich ebenso präsent ist. Ich wurde während des iranisch-irakischen Krieges geboren. Das war zwar gegen Ende des Krieges und ich habe keine Erinnerung daran. Aber ja, er ist da. Und ich habe das Gefühl, dass leider immer mehr Menschen auf der ganzen Welt diese Art von Instabilität und eine größere oder unmittelbarere Nähe zum Tod erleben müssen.
Du hast auch einen poetischen Aspekt des Todes erwähnt. Was meinst du damit?
Die Vergänglichkeit kann auch etwas Schönes in sich haben. Ich kann das auch mit einem Dichter in Verbindung bringen, nämlich Omar Chayyām. Er war nicht nur Dichter, sondern auch Wissenschaftler, Mathematiker, Philosoph – ein sehr interessanter Mensch. Und zu seiner Zeit waren viele seiner Zeitgenossen entweder sehr religiös, waren Sufis oder hatten auf verschiedene Weise eine starke Verbindung zum Mystizismus. Er war genau das Gegenteil: ein hedonistischer Philosoph, der nur darüber spricht, das Leben zu genießen und auszukosten, wie es ist. Es gibt eine ganze Reihe von Ruba'is, das sind Gedichte, die aus vier Zeilen bestehen. Und in vielen von ihnen geht es entweder um Wein und Rausch oder um Lebensgenuss oder um die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungerechtigkeit der Welt.
Da es mehrere Stücke von dir gibt, die direkt von persischer Literatur beeinflusst sind – gibt es auch einige, die direkt von persischer/iranischer Musik beeinflusst sind, wenn du es überhaupt so genau sagen kannst?
Ich habe Stücke, die direkt von persischer oder iranischer Musik beeinflusst sind. Aber eigentlich ist mir das egal. In den ersten Jahren, in denen ich anfing, Musik zu schreiben, war das etwas, das mich besonders interessiert hat. Aber irgendwann habe ich angefangen, diese Position zu überdenken. Ich habe mich gefragt, wo ich damit stehe, wenn es darum geht, wie meine Musik rezipiert wird. Ist das etwas Begrenzendes? Wird es mich oder meine Musik exotisieren? Werde ich dadurch in eine Schublade gesteckt, die ich nicht unbedingt will? Ich hatte viele Gespräche mit meinen nicht-westlichen Lehrer*innen, Kolleg*innen und Freund*innen über dieses Thema.
Wie wirken sich diese Gespräche und deine Erfahrungen auf deine Arbeit aus?
In dieser Phase befinde ich mich gerade noch. Sie fängt damit an, dass man mehr Leute kennenlernt, die die eigene Musik spielen und sich aufrichtig dafür interessieren. Es sind Musiker*innen, die vielleicht etwas finden, das iranisch ist oder iranisch klingt. Auch wenn ich mich vielleicht nicht bewusst dafür entschieden habe, ein Element aus der iranischen Musik zu verwenden, kann für mich diese Rückmeldung von Musiker*innen interessant sein, denn bei meiner Arbeitsweise achte ich nicht unbedingt darauf. Ich arbeite mit meinen Bewegungen, meiner Intuition, meiner Erinnerung – und mit Material, zu dem ich einen unmittelbaren, sehr intuitiven Bezug habe. Es ist also eigentlich ganz natürlich und auch normal, dass man iranische Elemente hören kann. Aber wenn es dann das Einzige ist, was wahrgenommen wird, dann stört mich das wirklich. Doch natürlich kann die Leute nicht wirklich davon abhalten zu denken, was sie denken oder zu fühlen, was sie fühlen. Und damit kann ich jetzt gut leben. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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